Peter Schwöbel, März 2022
Soweit wir für das Geschehen Verantwortung tragen,
soweit es also »Geschichte« ist,
wird diese unsere Verantwortung unerhört belastet dadurch,
dass nichts Geschehenes sich »aus der Welt schaffen« lässt.
Gleichzeitig jedoch ist diese unsere Verantwortung aufgerufen – dazu,
das Ungeschehene nun eben in die Welt zu schaffen!
Und zwar im Rahmen je unseres Tagewerks, im Rahmen je unseres Alltags.
Viktor E. Frankl – Über den Sinn des Lebens
Ein Tag, ein Buch.
Zwei Dinge haben mich heute sehr beschäftigt. Vielmehr habe ich mir erlaubt, mir die Zeit zu nehmen, mich mit Ihnen zu beschäftigen. Es ist wohl eher kein Zufall, dass ich mich gerade in der letzten Woche – in diesen Zeiten – viel mit dem Thema Werte beschäftigt habe.
Zum einen habe ich ein lehr- und erfahrungsreiches vertiefendes Seminar meiner Kolleginnen Natali Hoffmann Linhard und Mayumi Peters beim INeKO besucht, um den Einsatz der Wertearbeit im Coaching weiter zu erkunden. Zum anderen war dieses Thema Kern eines Erfahrungsaustauschs im Netzwerk meiner Kollegin Sandra Brauer aus Hamburg.
Dem Seminar habe ich eine Buchempfehlung zu verdanken, der ich unmittelbar nachgekommen bin. Und ich habe mir heute die Zeit genommen, um dieses kleine, aber ungemein wichtige Bändchen von Viktor E. Frankl zu lesen: Über den Sinn des Lebens.
Auf der Suche nach dem Sinn.
In diesem Buch sind drei Vorträge zu finden, in denen Frankl 1946, kein Jahr nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager, ein unglaubliches Plädoyer für die Menschlichkeit und gegen die Euthanasie hält und dem Leser – damals Zuhörer – ein eindrucksvolles Bild liefert, was der Sinn des Lebens ist (sein kann?) und wie er sogar im unendlichen Leid eines KZ-Häftlings zu finden ist.
Das ist eine Lektüre, die niemanden kalt lassen kann, und die ich jedem und jeder nur empfehlen kann. Die Besonderheit des Buches liegt in der unmittelbaren Verbindung des unsäglichen Leids, das das Dritte Reich erzeugt hat, mit der atemberaubenden Lebensbejahung des Autors, der Jahre im KZ verbracht hat.
Es gibt eine Menge, was man aus den etwas mehr als hundert Seiten des kleinen Bandes lernen kann, unmittelbar nach der Lektüre kann ich das gar nicht überblicken. Etwas für mich ganz Großes habe ich oben zitiert. Es geht um die Verantwortung des Einzelnen im historischen Kontext: Niemand kann das Geschehene ungeschehen machen, aber jede und jeder ist verantwortlich, das Ungeschehene – das getan werden sollte – geschehen zu lassen. Und dabei gibt es nicht ein Maß für große und kleine Taten, sondern „nur“ das konsequente Handeln nach sinnhaften und lebensbejahenden Werten.
Ich verstehe es so: Jede Deiner Handlungen im Alltag ist die Antwort auf die Frage, ob Dein Leben „Sinn macht“.
Frankl nimmt uns selbst ein Stück der Schwere dieser Erkenntnis: In jedem Moment unseres Lebens haben wir die Möglichkeit, uns neu und auch anders zu entscheiden – unabhängig vom bisherigen Weg und unabhängig von der Größe der Entscheidungen.
Fünf Sekunden
Was war nun die zweite Sache, die mich so sehr beschäftigt hat? Das waren fünf Sekunden russisches Fernsehprogramm.
Das ist eine russische Journalistin namens Marina Owsjannikowa, die sich entschieden hat, in einer laufenden Fernsehsendung ein Plakat hochzuhalten. Die sich entschieden hat, sich vielleicht verhaften zu lassen, vielleicht Ihre Kinder viele Jahre nicht wiederzusehen. Die sich entschieden hat, ihr Familien- und Berufsleben zu pulverisieren. Niemand würde sie jemals beschuldigen, das, was sie getan hat, nicht getan zu haben. Aber für fünf Sekunden hat sie getan, was sie offensichtlich tun musste.
Weil es Sinn machte.
Wir können, sollten und werden nicht alle Helden sein, aber dieses Buch zu lesen ist ein guter Anfang:
Wenn dies Dein erster Denkzettel ist, könnte Dich diese Übersicht interessieren.
Hinweis: Ganz viele Typen können auch Typinnen sein, ich habe das ausschließlich zur besseren Lesbarkeit vereinfacht.
Bilder: © Adobe Stock, Peter Schwöbel
Comments are closed